Getreidefreie Lebensmittel: Missverständnisse


Von Isabelle Bouissou, med. vet.

Seit einigen Jahren ist die getreidefreie Ernährung bei Hunde- und Katzenbesitzern populär geworden, und wahrscheinlich haben Sie viele Besitzer, die sich über die theoretischen oder tatsächlichen Vorteile dieser Ernährungsweise wundern - was sind die gängigen Meinungen, und welche Argumente können Sie vorbringen? 

Argument 1: "Hunde und Katzen sind nicht dafür gemacht, Stärke zu verdauen".

Ein häufig gehörtes Argument ist, dass Hunde und Katzen Fleischfresser sind und nicht dazu geschaffen sind, Kohlenhydrate zu verdauen. Zwar ist die Katze tatsächlich ein reiner Fleischfresser im Gegensatz zum Hund, der ein fleischliebender Allesfresser ist. Beide sind aber mit Enzymen ausgestattet, die Stärke verdauen können: Amylasen. 

Es stimmt zwar, dass der Wolf sich hauptsächlich von Beutetieren ernährt, aber die Ernährung des Vorfahren des Hundes war bereits vielseitiger und bestand aus Überresten der menschlichen Ernährung (darunter Getreide und stärkehaltige Nahrungsmittel), Aas und kleinen Beutetieren sowie verschiedenen Exkrementen. Das Auftreten der AMY-2B-Genmutation wurde zudem auf mindestens vor 7000 Jahre datiert und Hunde besitzen 4- bis 30-mal mehr AMY-2B-Gene als der Wolf (Axelsson et al, 2014)¹. Rassen mit wenigen Kopien dieses Gens, die sogenannten Urrassen, sind zwar in der Lage, Stärke zu verdauen, profitieren aber in manchen Fällen von einer weniger kohlenhydratreichen Ernährung.

Katzen haben weniger Amylasen als Hunde, aber beide Arten können Stärke verdauen, wenn sie gut gekocht, bzw. aufgespaltet ist.


Argument 2: "Getreidefreie Kroketten sind weniger stärkehaltig".

Da Stärke für die Herstellung von Kroketten unerlässlich ist, werden für getreidefreie Kroketten andere Quellen verwendet: Kartoffeln, Süsskartoffeln, Erbsen, Hülsenfrüchte usw. In einer Studie (Alvarenga & Aldrich, 2020)² in den USA wurden verschiedene Hunde- und Katzenfuttersorten miteinander verglichen. Im Durchschnitt enthielten getreidefreie Kroketten für Hunde genauso viel Stärke wie solche mit Getreide. Bei Katzen hingegen kann man mit einem getreidefreien Futter einen etwas niedrigeren Stärkegehalt erreichen.

Ballaststoff- und Stärkegehalt von Getreide und getreidefreien Futtermitteln - Alvarenga & Aldrich, 2020.
Quelle Tabelle: C. Devaux, Arginin Ausbildung 2021


Eine "getreidefreie" Krokette garantiert also nicht unbedingt einen geringeren Kohlenhydratanteil, und es ist wichtig, die Kennzeichnungen  des Produktes von Fall zu Fall zu bewerten, um den Anteil zu finden, der für das Tier am besten geeignet ist. 

Argument 3: "Getreidefreie Kroketten sind besser verträglich, da sie kein Gluten enthalten. "

Bis heute wurde eine Glutenunverträglichkeit bei 2 Hunderassen nachgewiesen: beim Border Terrier (der das Canine Epileptoid Cramping Syndrome CECS, auch Paroxysmal Gluten-sensitive Dyskinesia PGSD genannt, aufweisen kann) und beim Irish Setter (der an Gluten Sensitive Enteropathy leiden kann). 

Bei allen Rassen kann eine Glutensensitivität jedoch zu Verdauungsstörungen (Erbrechen, Durchfall, Blähungen) oder Hautproblemen führen. In diesen Fällen könnte eine glutenfreie Ernährung von Vorteil sein. Getreidefreie Kroketten sind glutenfrei. Allerdings gibt es auch glutenfreie Getreidesorten, z. B. Reis oder Mais.

Aber Vorsicht: getreidefreie Lebensmittel können, wenn sie viele Hülsenfrüchte enthalten, sehr ballaststoffreich sein und ebenfalls zu Blähungen oder Durchfall führen³.

Argument 4: Getreidefreie Lebensmittel und das Risiko einer dilatativen Kardiomyopathie (DCM) bei Hunden und Katzen

Seit einigen Jahren wurde ein Anstieg von DCM-Fällen bei Hunden beobachtet, und seit 2018 veröffentlicht die United States Food and Drug Administration (FDA) regelmässig einen Bericht über den Zusammenhang zwischen DCM und bestimmten Diäten, die reich an Hülsenfrüchten sind und/oder als "getreidefrei"⁴ gekennzeichnet sind. Auch bei Katzen wurden einige Fälle berichtet. 

Mehrere Hypothesen zur ernährungsbedingten Kardiomyopathie werden noch untersucht, einige davon beinhalten insbesondere einen potenziellen Taurinmangel:

  • Hülsenfrüchte, die in einigen getreidefreien Trockenfuttersorten in grossen Mengen vorkommen, sind arm an Methionin, der Vorstufe der Aminosäure Taurin, welches für die Herzfunktion wichtig ist.
  • Die in grossen Mengen vorhandenen löslichen Ballaststoffe könnten die Verwertung des in den Gallensäuren enthaltenen Taurins über den enterohepatischen Kreislauf verhindern.

Zwar wurden diese Annahmen noch nicht bestätigt, doch sollte man bei Rassen mit DCM-Risiko oder bei Patienten mit Herzerkrankungen vorsichtig sein und Lebensmittel meiden, die reich an Erbsen oder Hülsenfrüchten sind⁵.

Schlussfolgerung

Nicht alle "getreidefreien" Futtersorten sind gleichwertig und stehen für Qualität. Wenn sie von Fachleuten entsprechend den Ernährungsbedürfnissen von Hunden und Katzen zusammengestellt wurden und nicht zu viele Erbsen und Hülsenfrüchte enthalten, die die Verdaulichkeit beeinträchtigen, sollten sie keine Probleme bereiten und können sogar für Patienten, die z. B. auf Gluten empfindlich reagieren oder die Stärke weniger gut verdauen können, von Vorteil sein. Sie garantieren jedoch keine bessere Verdaulichkeit oder einen geringeren Kohlenhydratgehalt als herkömmliche Lebensmittel. Mehrere "getreidefreie" Referenzen wurden mit Fällen von dilatativer Kardiomyopathie (DCM) bei Hunden und Katzen in Verbindung gebracht und sollten bei Risikorassen oder Patienten mit Herzerkrankungen vermieden werden.


Referenzen:

  1. Maja Arendt,Tove Fall,Kerstin Lindblad-Toh,Erik Axelsson. 2014 “Amylase activity is associated with AMY2B copy numbers in dog: implications for dog domestication, diet, and diabetes”. Anim Genet 45 (5) : 716-722  
  2. Alvarenga, Isabella, et Greg Aldrich. 2020. “Starch Characterization of Commercial Extruded Dry Pet Foods” Translational Animal Science 4 doi.org/10.1093/tas/txaa018
  3. Lopez, Luis. 2019. “Evaluation of Ancient Grains and Grain Free Dog Food on Nutrient Utilization and Stool Consistency in Dogs”. Kansas State University Undergraduate Research Conference, avril.
  4. United States Food and Drug Administration. 2018 “FDA provides third status report on investigation into potential connection between certain diets and cases of canine heart disease” www.fda.gov/animal-veterinary/outbreaks-and-advisories/fda-investigation-potential-link-between-certain-diets-and-canine-dilated-cardiomyopathy Status 08.2022
  5. Freid, Kimberly J., Lisa M. Freeman, John E. Rush, Suzanne M. Cunningham, Megan S. Davis, Emily T. Karlin, et Vicky K. Yang. 2021. “Retrospective Study of Dilated Cardiomyopathy in Dogs”.  Journal of Veterinary Internal Medicine 35 (1): 58 67. doi.org/10.1111/jvim.15972 

❤️ Danksagungen: Dr. med. vet. Charlotte Devaux - Ausbildung Ernährung Arginin - https://charlotte-devaux.com/arginine-formation-nutrition-veterinaire/

 


Crissier, den 1. September 2022